- Literaturnobelpreis 1905: Henryk Sienkiewicz
- Literaturnobelpreis 1905: Henryk SienkiewiczDer Pole erhielt den Nobelpreis für Literatur aufgrund seiner großartigen Verdienste als epischer Schriftsteller und vor allem für seinen Roman »Quo vadis?«.Henryk Sienkiewicz, * Wola Okrzejska (Wojewodschaft Siedlce) 5.5.1846, ✝ Vevey (Schweiz) 15.11.1916; 1866-70 Jura-, Medizin- und Philologiestudium in Warschau, ab 1872 Journalist und freier Schriftsteller, mehrere Reisen nach Westeuropa, Amerika und Afrika; setzte sich nach 1900 für die polnische Sache und die Lage der polnischen Schriftsteller ein und erlangte mit historischen Romanen Berühmtheit.Würdigung der preisgekrönten LeistungAls Sienkiewicz 1905 den Nobelpreis erhielt, gab es kein Polen. Hinter dem aus dem russischen Teilungsgebiet stammenden Schriftsteller stand kein weit verzweigter Staatsapparat, der seine Kandidatur unterstützt und vorbereitet hätte, sondern nur der Ruhm von »Quo vadis?«, einem historischen Roman über die Christenverfolgung im spätantiken Rom. Das Werk ist eines der wichtigsten Erfolgsbücher der Weltliteratur. Es entstand zwischen 1895 und 1896 in knapp einem Jahr und wurde nach seinem Erscheinen sofort in mehrere Sprachen übersetzt, wobei den Übersetzern aus Europa, Amerika und Asien oft nicht das polnische Original als Vorlage diente, sondern die deutsche oder englische Übersetzung. Das Buch, oft aufwendig illustriert und historisch kommentiert, wurde ein Meilenstein des Buchhandels. Es erreichte in Amerika rasch eine Millionenauflage und wurde zur Vorlage von mehreren Adaptionen auf der Bühne (Wilson Barrett), in der Oper (Jean Nouguès), der Kunst und schließlich am nachhaltigsten im Film. Ein Höhepunkt der Quo-vadis-Begeisterung lag vor dem Ersten Weltkrieg, er wurde aber mit der Hollywood-Verfilmung 1951 noch einmal überboten.»Quo vadis?«Der Roman erzählt vom Aufeinanderprallen der reichen Kultur des spätantiken Roms unter Nero und der armen Kultur des Frühchristentums. Der Erzähler findet an der antiken heidnischen Welt deutlich mehr Gefallen als an der christlichen, die auffallend blass und schablonenhaft wirkt, obwohl am Sinn der christlichen Heilsgeschichte an keiner Stelle gezweifelt wird. Der Vertreter des heidnischen Roms, der genauso schöne wie kluge Petronius, bleibt nach seinem Gespräch mit dem Apostel Paulus bei seinem Glauben, wiewohl er die historische Richtigkeit des Christentums begreift. Es ist ein rekonstruiertes Rom der gewaltigen Feste und Umzüge, wie es zuvor die historische Malerei entworfen hat. Sienkiewicz entzündet denn auch seine plastische Imagination an den Bildern seines Landsmanns und Zeitgenossen Henryk Siemiradzki (»Fackeln des Nero«). Das Wissen um das antike Rom verdankt er aber dem von ihm verehrten antiken Historiker Tacitus und dem französischen Kenner des Urchristentums Ernest Renan. Nach dem Welterfolg des Romans haben verschiedene Kritiker und Schriftsteller vor allem in Frankreich den Autor immer wieder der historischen Ungenauigkeit und des Plagiats bezichtigt.Spätantike und Urchristentum waren Vorlage vieler Romane des 19. Jahrhunderts. Berühmt geworden ist vor allem »Ben Hur« von Lewis Wallace (1880). Der Roman war Sienkiewicz bekannt. Der Erfolg von »Quo vadis?« liegt im gekonnten Verschachteln des kulturellen Panoramas des antiken Roms mit einer dramatischen Liebes- und Bekehrungsgeschichte. Der junge Patrizier Vinicius entbrennt in Leidenschaft zu Ligia, Königstochter aus einem im heutigen Polen angesiedelten Volk der Ligier. Diese lebt als Geisel in Rom und ist bereits bekehrt. Ihr bärenstarker Diener Ursus rettet die keusche Ligia vor dem zudringlichen Werben des Heiden Vinicius und bringt sie in die verborgene Gemeinde der Urchristen. Vinicius findet sie dort wieder und tritt zum Christentum über. Aber die Verfolgung der Christen nach dem von Nero inszenierten Brand Roms trennt die Geliebten. Ligia soll auf den Hörnern eines Auerochsen in der Arena, ein nachgestelltes mythologisches Bild, zu Tode gebracht werden, doch ihr Diener rettet sie erneut. Damit ist der Weg frei für die vom römischen Volk verlangte Vereinigung der Geliebten. Die große Spannung von Leidenschaft, Liebe und Glaubensschicksal wird durch die Detektivfigur Chiton verstärkt, ein von den Mächtigen bezahlter Straßenphilosoph, der sich versteckenden Urchristen nachspäht und sie zum eigenen Gewinn verrät. Chiton funktioniert im Roman als Gegenfigur des einfachen und uneigennützigen Dieners Ursus. Mit den Ligiern lässt Sienkiewicz Polen als Teil des Urchristentums verherrlichen und spielt auf die polnischen Teilungen im 19. Jahrhundert an, wenn Ursus dem deutschen Auerochsen das Genick bricht, was eine deutliche Drohgebärde und ein Widerstandssymbol gegen die preußische Teilermacht darstellt. Sienkiewicz, obwohl aus dem russischen Teilungsgebiet, greift in seinen politischen Anspielungen sehr oft Preußen und, nicht zuletzt aus Zensurgründen, weniger Russland an. Solche politischen Geheimzeichen waren nicht so sehr für die internationale Öffentlichkeit wie für den polnischen Leser eingesetzt und sind ein Zeichen der Mehrschichtigkeit des Werks. Seinen überwältigenden internationalen Durchbruch verdankt das Werk auch dem Zeitkolorit der Spätantike. Sienkiewicz hat zuvor in zwei Zeitromanen »Ohne Dogma« (1891) und »Die Familie Polaniecki« (1895) versucht, die Figur des zeitgenössischen polnischen Dekadenten zu fassen. Der Machtrausch Neros und der Ästhetizismus seines viel sympathischeren Gegenspielers Petronius atmen den Zeitgeist von Friedrich Nietzsche und des Fin de Siècle.Zur Stärkung der HerzenSienkiewicz ist nicht nur Autor eines einzigen Buchs. Gerade in Polen gründet sich sein Ruhm viel mehr auf einer Reihe von historischen Romanen zur polnischen Geschichte, die er, wie er selbst schreibt, seit den 1880er-Jahren »mit nicht geringer Mühe zur Stärkung der Herzen geschrieben hat«. Sie sind Gegenbilder aus der polnischen heroischen Vergangenheit, in denen die historische Wahrheit, insbesondere in Bezug auf die Ukraine, nicht selten einer patriotischen Überhöhung weichen muss, und sie sind gleichzeitig aufgeklärte konservative Antwort auf den herrschenden pragmatischen Geist des liberalen Positivismus, aus dem sich Sienkiewicz zu befreien sucht. Der spätere polnische Nobelpreisträger Miłosz wird diese großen historischen Fresken und Schlachtenbilder mit den Indianergeschichten Karl Mays vergleichen. Sienkiewicz kannte Amerika gut, denn zwischen 1876 und 1878 war er dort als Korrespondent tätig und schrieb seine Reisebriefe.Kein polnischer Schriftsteller, außer in der jüngsten Zeit Stanisław Lem, schaffte einen vergleichbaren internationalen Durchbruch wie Sienkiewicz, und bei keinem ist der literarische Zugang in gleicher Weise durch Gemeinplätze verstellt. Während der Leseerfolg Sienkiewiczs außerhalb Polens heute eher der Vergangenheit angehört, bleibt seine nicht zu unterschätzende identitätsstiftende Bedeutung erhalten.G. Ritz
Universal-Lexikon. 2012.